Bin ich traumatisiert?
Aktualisiert: 2. Aug.
Ich weiß nicht, wie es dir mit dieser Frage geht, aber vor wenigen Jahren noch wäre meine Antwort klar gewesen: ICH bin doch nicht traumatisiert!
Ja, natürlich, ich habe mehr erlebt, als ich teilweise verkraften konnte. Ich habe Erfahrungen gemacht, die ich niemandem wünsche. Aber ich habe alles gemeistert. Ich lebe - wie kann ich da traumatisiert sein?

Es gibt fachkompetente Menschen, die glauben, wir wären alle traumatisiert. Da gibt es kollektive Traumata. Generationenübergreifende Traumata. Und wer kann schon behaupten, die eigene Kindheit war immer, immer, immer schön, bunt, fröhlich, sicher, verbunden ...
Bin ich traumatisiert?
Trauma ist individuell, subjektiv. Trauma ist eine psychologische, emotionale Wunde. Eine offene, ungeheilte Verletzung. Eine Verletzung, die nicht immer spürbar sein muss.
Doch wenn es berührt, getriggert wird, schmerzt Trauma, enorm.
Manche Menschen wissen um ihre Traumata. Andere wollen sich nicht mit dieser Frage beschäftigen, leben vielleicht bewusst, vielleicht unbewusst mit ihren Traumafolgesymptomen. Noch andere wissen nicht einmal, dass sie traumatisiert sind, durch z. B. emotionale Vernachlässigung oder eine belastete Bindung zu den Eltern in der Kindheit. Und wieder andere haben keine Wunden durch das erfahren, was sie im Außen erlebt haben.
Trauma ist das Resultat des äußeren Geschehens in dir.
Trauma ist nicht das, was dir von außen zugefügt wird, sondern das, was in dir passiert als Resultat des äußeren Geschehens. Trauma ist die Wunde, die das Erlebte hinterlässt.
Diese Wunde kann, muss aber nicht entstehen. Und: Sie kann geheilt werden.
Wir können Trauma auch als Dissoziation von unserem Selbst verstehen. Trauma ist Schutz. Ein starres, festes Narbengewebe. Denn alles, was in uns passiert, passiert für uns.
Heilung bedeutet hier das Gegenteil von Dissoziation, also Ganzwerden. Und das ist ein langer Weg, es ist Arbeit. Ein Prozess. Und der erste Schritt auf dem Weg der Heilung ist die Akzeptanz, das Wahrnehmen, das Anerkennen, traumatisiert zu sein:
"Ja, ich bin traumatisiert."
Es ist ein Weg, sich einzugestehen, dass man eben nicht einfach so ist, wie man ist, sondern dass es Gründe für Reaktionen, für das eigene Verhalten gibt. Ist der Mensch glücklich damit, zufrieden mit sich, dann gibt es wahrscheinlich eher keine Notwendigkeit, sich diesbezüglich genauer, näher, tiefer zu betrachten.
Auf diesem Weg des Ganzwerdens ist es nicht notwendig, in die Erinnerung zu gehen. Zurück zu Situationen, die so stark und nachhaltig verletzt haben. Traumasensibel arbeiten bedeutet, mit dem zu arbeiten, was heute, hier und jetzt, an Themen ansteht - und niemals in die Retraumatisierung zu gehen.
Vergangenes, Erlebtes wird auf diese Weise integriert, verarbeitet, ohne erneut angeschaut und erlebt werden zu müssen.
Traumasensibles Begleiten
Unabhängig davon, ob jemand (bewusst) traumatisiert ist oder nicht, profitiert jeder davon, traumasensibel bei Themen, Herausforderungen, Problemen begleitet zu werden. So können alle Anteile in uns mitgenommen werden, gesehen, gehört - und am Ende integriert werden. Das ist Heilung im Sinne von Ganzwerden.
Wobei ich persönlich meine Klientinnen und Klienten unterstütze, helfe, begleite, werde ich in den folgenden Wochen, Monaten immer mal wieder hier berichten. Ich werde von Kinderwunsch-Patientinnen erzählen, von "Burn out"-Klienten, von Panikattacken, Überforderungen und Ängsten. Und von vielem mehr ...
Und um die Ausgangsfrage zu beantworten:
Ich überlasse es meinen Klientinnen und Klienten, sich selber als traumatisiert zu bezeichnen - oder eben nicht.
