Sind wir wirklich alle traumatisiert?
Aktualisiert: 22. März
Ich weiß nicht, wie es Ihnen mit dieser Frage geht, aber vor wenigen Jahren noch wäre ich beim Lesen sofort in den Widerstand gegangen: ICH bin doch nicht traumatisiert!
Ja, natürlich, ich habe mehr erlebt, als ich teilweise verkraften konnte. Ich habe Erfahrungen gemacht, die ich niemandem wünsche. Aber ich habe alles gemeistert. Ich lebe - wie kann ich da traumatisiert sein?

Es gibt Menschen, die glauben, dass wir tatsächlich alle traumatisiert sind. Da gibt es kollektive Traumata. Generationenübergreifende Traumata. Und wer kann schon behaupten, die eigene Kindheit war immer, immer, immer schön, bunt, fröhlich, sicher, verbunden ...
Aber sind wir deswegen alle traumatisiert?
Trauma ist individuell, subjektiv. Trauma ist eine psychologische, emotionale Wunde. Eine offene, ungeheilte Verletzung.
Trauma schmerzt, enorm, wenn es berührt, getriggert wird.
Manche Menschen wissen um ihre Traumata. Andere wollen sich nicht mit dieser Frage beschäftigen, leben vielleicht bewusst, vielleicht unbewusst mit ihren Traumafolgesymptomen. Und wieder andere haben keine Wunden durch das erfahren, was sie im Außen erlebt haben.
Trauma ist das Resultat des äußeren Geschehens in Ihnen.
Trauma ist nicht das, was Ihnen von außen zugefügt wird, sondern das, was in Ihnen passiert als Resultat des äußeren Geschehens. Trauma ist die Wunde, die das Erlebte hinterlässt.
Diese Wunde kann, muss aber nicht entstehen. Und: Sie kann geheilt werden.
Wir können Trauma auch als Dissoziation von unserem Selbst verstehen. Trauma ist Schutz. Ein starres, festes Narbengewebe. Denn alles, was in uns passiert, passiert für uns.
Heilung bedeutet hier das Gegenteil von Dissoziation, also Ganzwerden. Und das ist ein langer Weg, es ist Arbeit. Ein Prozess. Und der erste Schritt auf dem Weg der Heilung ist die Akzeptanz, das Wahrnehmen, das Anerkennen, traumatisiert zu sein:
"Ja, ich bin traumatisiert."
Es ist ein Weg, sich einzugestehen, dass man eben nicht einfach so ist, wie man ist, sondern dass es Gründe für Reaktionen, für das eigene Verhalten gibt. Ist der Mensch glücklich damit, zufrieden mit sich, dann gibt es wahrscheinlich eher keine Notwendigkeit, sich diesbezüglich genauer, näher, tiefer zu betrachten.
Auf diesem Weg des Ganzwerdens ist es nicht notwendig, in die Erinnerung zu gehen. Zurück zu Situationen, die so stark und nachhaltig verletzt haben. Meine Kollegen und ich arbeiten an dem, was heute, hier und jetzt, an Themen ansteht - und gehen niemals in die Retraumatisierung. Vergangenes, Erlebtes wird auf diese Weise integriert, verarbeitet, ohne erneut angeschaut und erlebt werden zu müssen.
Traumasensibles Coaching
Unabhängig davon, ob jemand (bewusst) traumatisiert ist oder nicht, profitiert jeder davon, traumasensibel bei Themen, Herausforderungen, Problemen begleitet zu werden. So können alle Anteile in uns mitgenommen werden, gesehen, gehört - und am Ende integriert werden. Das ist Heilung im Sinne von Ganzwerden.
Wobei ich persönlich meine Klientinnen und Klienten unterstütze, helfe, begleite, werde ich in den folgenden Wochen, Monaten immer mal wieder hier berichten. Ich werde von Kinderwunsch-Patientinnen erzählen, von "Burn out"-Klienten, von Panikattacken, Überforderungen und Ängsten. Und von vielem mehr ...
Um die Ausgangsfrage zu beantworten: Ich überlasse es meinen Klientinnen und Klienten, sich selber als traumatisiert zu bezeichnen - oder eben nicht.
